AM68 – Brief an Walter Gropius
Semmering Kurhaus, Samstag, 3. Juni 1911 [= Poststempel]


Wie lieb, wie einzig lieb – wie niemals unzart – immer verstehend sind Deine Worte. Ja – Du hast es begriffen – ich habe unendlich viel verloren – seine Größe – Güte[,] Noblesse waren ein „Voran“ in meinem Leben. Ich kann es immer weniger verstehen, dass nicht wieder leicht u. behende durch das Zimmer \Leben/ rasen soll – immer das rechte Wort am rechten Fleck – und vor allem – seine Kunst. Ich – eine der wenigen weiß und wusste es immer, dass er ein Auserwählter – ein Schöpfer – in des Wortes wahrster Bedeutung war \ist/. – Seine Musik und die von ihm interpretirte war seit vielen Jahren das Einzige, was meine Ohren


vertragen konnten[.] — Begreifst Du nun – – –

Ein Glück – ich konnte in den 3 Monaten der Krankheit ihm Liebes über Liebes erweisen. Und übermenschlich hoch bin ich in seinen Augen gestiegen – viel zu dankbar war er für das bischen Leben, das ich für ihn opfern konnte[.] –

– Ich bin nun bald 8 Tage hier – die ersten furchtbaren 8 Tage bin ich bei gelegen – durch fortwährende Schlafmittel bei Tag und Nacht betäubt[.] – Ich bleibe hier – bis g.[egen] Ende Juni – dann gehe ich nach Tobelba Toblach[.] —

Dort möchte ich Dich Ende July – od[er] im August sehen – das werden wir noch ausmachen[.] –


Du wirst mein Gast sein – wenn bei mir S ist – niemand von meinen Leuten kennt Dich – wir können ein paar Tage ruhig mit einander verleben – sprechen – uns näher kommen[,] uns von Neuem kennen lernen[.] – —

Ich werde wie jedes Jahr auch heuer Gäste dort haben – und wie schön wird es sein, wenn Du mein Gast sein wirst. Doch darüber viel noch brieflich[.] —

Hier liege ich viel, soll zunehmen, denn ich bin sehr dünn geworden – die Luft aber belebt mich. Ich lese jeden Tag

ein Buch aus. Es scheinen mir Jahre zwischen heute und dem furchtbaren Begebnis zu liegen – seine Krankheit versinkt, er wird immer lebensvoller – lebender – um mich herum – ich träume jede Nacht von ich ihm — verwöhnt – lieblich[.] – Ich weiß, dass auch meine Stunde kommen wird, immer mehr fühle ich, wie man geitzen [!] muss, mit der Stunde, und jeder lebe zu seiner Freude[.] –

Denn plötzlich ist man „gewesen“ und das Wasser schließt sich über einem[.] —

Was hat Er heute von all seinen herrlichen


Werken? —

Was ist ihm der Pöbel[,] der hinter ihm drein stürzt – das Leben, als ol solches – hat er nicht gekannt. Er hat für eine Mission gelebt und ich – mit ihm!

Wer hat uns das dictirt?

So wie mir heute besser ist – sehne ich mich

nach Sonne – Jugend[,] Schönheit – ja — Dummheit – denn Leid – Ernst – Vertiefung – macht alt. Ich habe genug von all dem erfahren.

Liebe mich[.]

[Postskriptum:] Schreibe immer, immer neues[.]


Apparat

Überlieferung

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Quellenbeschreibung

3 Bl. (6 b. S.) – Briefpapier.

Beilagen

Umschlag, , Deutschland | Timmendorf a/d. Ostsee | 6/5 Bln Wilmersdorf (unbekannte zeitgenössische Handschrift) | poste restante | Herrn Walter Gropius; PSt. (lt. , S. 803, h 7d1 oder i 7d1): SEMMERING [1] | 3.VI.11 – 9 | [a oder b]; von WG mit einer 23 versehen (Zur Nummerierung von Alma Mahlers Briefumschlägen); von der Post mit einer großen „20“ in blauem Buntstift beschriftet, darüber violetter Stempel „Porto“. Verweist auf unzureichende Frankierung (Gewicht höher als 20g), frankiert nur mit 10 Heller; fremdschriftlicher Zusatz nach Übergabe an : „48“; rückseitig: Nachs. Berlin. Wilmersdorf | Nicolsburgerplatz 4. | Ehlers 6/6. (unbekannte zeitgenössische Handschrift).

Druck

Erstveröffentlichung.

Korrespondenzstellen

Antwort auf WG136 vom 19. Mai bis 1. Juni 1911 (Zum 2ten mal hast Du nun das ganz große Leid erfahren, das ein Stück des Herzens unwiederbringlich […] immer fortreißt): Du hast es begriffen – ich habe unendlich viel verloren und WG137 vom 19. Mai bis 1. Juni 1911 (Laß es meine Aufgabe sein, Dich langsam und zart wieder zum Leben zu erwecken. […] Ich […] verstehe Dich): wie niemals unzart – immer verstehend. Beantwortet durch WG141 vom 6. oder 7. Juni 1911 (Ich bin selig, daß langsam wieder Leben, Sehnsucht \u Sonne u Jugend/): So wie mir heute besser ist – sehne ich mich nach Sonne – Jugend[,] Schönheit.

Datierung

Folgt Poststempel.

Übertragung/Mitarbeit


(Manuel Tietz)
(Fabian Müller)


A

Worte – aus den Entwürfen WG136 und WG137, jeweils vom 19. Mai bis 1. Juni 1911.

B

Krankheit – s. AM62 vom 25. März 1911: recurrirende Endocarditis.

C

Ursprünglich: und.